Eine erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung des Kindes für seine mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt genügt für den Kindergeldanspruch nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG auch dann, wenn es nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht ist.
Hintergrund: Gesetzliche Regelungen
Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 und 2 i. V. m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht ein Anspruch auf Kindergeld für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Weitere Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
Sachverhalt: Unterbringung des behinderten Kindes in einem psychiatrischen Krankenhaus
Die Klägerin ist die Mutter des im Juli 1999 geborenen Sohnes C. Dieser leidet seit etwa seinem 14. Lebensjahr an einer hebephrenen Schizophrenie (F 20.1). Dies äußerte sich bei C durch expansiv-aggressives Verhalten mit Weglauftendenzen, Grenzüberschreitung, Sexualisierung, manische Zustände mit Selbstüberschätzung, Abwertung anderer, körperliche Übergriffe und zudem eigengefährdende Handlungen.
Wegen verschiedener Gewaltausbrüche wurde C aufgrund einstweiligen Unterbringungsbefehls des AG Hamburg aus dem Jahr 2017 in der Klinik F, VI. psychiatrische Station, untergebracht. Er wurde aber später wieder vom Vollzug der einstweiligen Unterbringung verschont und befand sich in den Monaten Oktober und November 2017 in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung der Klinik H und im Anschluss in der Klinik F, (Akutstation). Im Januar 2018 wurde der Unterbringungsbefehl wieder in Vollzug gesetzt. Einkünfte erzielte C nicht.
Bei den rechtswidrigen Körperverletzungen handelte C nach der Überzeugung des AG Hamburg jeweils ohne Schuld, weil seine Steuerungsfähigkeit infolge der schizophrenen Erkrankung aufgehoben war. Das Gericht ordnete gemäß § 63 StGB die Unterbringung des C in einem psychiatrischen Krankenhaus an.
Familienkasse hebt Kindergeldfestsetzung wieder auf
Die Familienkasse hatte Kindergeld für C zunächst ab August 2017 festgesetzt. Sie nahm an, er sei wegen seiner Behinderung außerstande, sich selbst zu unterhalten. In der Folge hob die Familienkasse den Kindergeldbescheid wieder auf und forderte den gezahlten Betrag zurück.
Den hiergegen sowohl wegen der Aufhebung der Kindergeldbescheids als auch wegen der Rückforderung des Kindergelds eingelegten Einspruch der Klägerin wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung als unbegründet zurück. C sei wegen seiner Unterbringung in der forensischen Psychiatrie und der dadurch bedingten Freiheitsbeschränkung nicht in der Lage, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, nicht aber wegen seiner Behinderung.
FG gibt Klage statt
Mit der anschließend erhobenen Klage vertrat die Klägerin die Ansicht, im Streitfall sei die Ursächlichkeit der Behinderung des C für seine fehlende Fähigkeit zum Selbstunterhalt gegeben. Insbesondere liege – anders als in den bisher von der Rechtsprechung entschiedenen Fällen – kein Fall der überholenden Kausalität vor, denn die Behinderung sei ursächlich für die Unterbringung. Das FG ist der Auffassung Klägerin gefolgt und hat der Klage stattgegeben.
Entscheidung: BFH weist Revision der Familienkasse zurück
Der BFH hat entschieden, dass die Vorinstanz in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen ist, dass C auch während der Zeit, in der die vom AG Hamburg angeordnete (einstweilige) Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vollzogen wurde, als behindertes Kind zu berücksichtigen ist. Die rechtliche Würdigung des FG, die Unterbringung des C in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgrund des Unterbringungsbefehls vom März 2017 und des Urteils des AG Hamburg aus dem August 2018 stelle keine die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt überholende Ursache dar, sei revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG erfordere, dass das Kind „wegen“ seiner Behinderung außerstande sein müsse, sich selbst zu unterhalten. Die Behinderung müsse somit nach den Gesamtumständen des Einzelfalles für die fehlende Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ursächlich sein.
Kein Kindergeldanspruch für Kinder in Strafhaft
Nach ständiger Rechtsprechung bestehe für behinderte Kinder, die sich in Strafhaft befänden, kein Anspruch auf Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Gleiches gelte für behinderte Kinder, die wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht seien. Begründet werde dies mit der dann insoweit fehlenden Kausalität zwischen der Behinderung und der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt.
Soweit andere, die behinderungsbedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt insoweit überholende Ursachen, wie z. B. die Inhaftierung oder die Unterbringung im Maßregelvollzug, hinzuträten, sei Kindergeld selbst dann zu versagen, wenn die Begehung der zur Inhaftierung führenden Straftat behinderungsbedingt sei. Während der Haft sei ein Kind unabhängig davon, ob es behindert sei oder nicht, grundsätzlich außerstande, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. In diesen Fällen stehe nicht die Behinderung eines Kindes der Ausübung einer Erwerbstätigkeit zur Bestreitung des Lebensunterhalts entgegen, sondern die Inhaftierung.
Allerdings Fortentwicklung und Präzisierung der Rechtsprechungsgrundsätze geboten
Die Rechtsprechungsgrundsätze zur Kausalität der Behinderung für die fehlende Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt seien für die Fälle, in denen ein Strafgericht die Unterbringung des Kindes in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet habe, allerdings fortzuentwickeln und zu präzisieren.
Im Zusammenhang mit einem arbeitslosen behinderten Kind habe der BFH bereits entschieden, dass nicht jede einfache Mitursächlichkeit ausreiche, sondern vielmehr die Mitursächlichkeit der Behinderung für die fehlende Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt erheblich sein müsse. Ob eine erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt gegeben sei, habe das FG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu entscheiden. Eine abstrakte Betrachtungsweise sei nicht zulässig.
Diese Grundsätze seien auch in Fällen anzuwenden, in denen ein behindertes Kind wegen einer im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen rechtswidrigen Tat nicht habe verurteilt werden können und nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden sei. Entsprechendes gelte für die Zeiträume, in denen das Kind nach § 126a StPO einstweilen in einer solchen Einrichtung untergebracht sei.
Die erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt müsse daher nicht zwangsläufig entfallen, wenn das Kind aufgrund seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus einer bedarfsdeckenden Erwerbstätigkeit nicht nachgehen könne. Zwar sei das Kind dann letztlich wegen der freiheitsentziehenden Maßnahme nicht mehr in der Lage, sich selbst zu unterhalten. Die erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt könne aber weiterhin fortbestehen. Ob die Behinderung eine wesentliche Mitursache für die fehlende Fähigkeit zum Selbstunterhalt bleibe oder ob die zwangsweise Unterbringung in einem Krankenhaus oder einer Justizvollzugsanstalt diese Ursache so überlagere, dass die Behinderung im Vergleich dazu nicht mehr als wesentliche Bedingung angesehen werden könne, könne nur anhand der jeweiligen Situation des behinderten Kindes nach den Gesamtumständen des Einzelfalles bewertet werden.
Der Freiheitsentzug selbst sei dabei lediglich eines von mehreren Indizien, die im Rahmen der Gesamtwürdigung zu berücksichtigen seien. Daneben seien aber auch die Umstände festzustellen und zu gewichten, die zu der freiheitsentziehenden Maßnahme geführt hätten.
Dabei könnten die Ergebnisse des Strafverfahrens bzw. Sicherungsverfahrens herangezogen werden. Ergebe sich daraus, dass das Kind an einer seelischen Erkrankung leide, welche zugleich die vor dem 25. Lebensjahr eingetretene Behinderung darstelle, und deswegen eine oder mehrere rechtswidrige Taten begangen habe, für die ihm kein Schuldvorwurf gemacht und wegen der es daher nicht verurteilt werden könne, so liege darin ein gewichtiges Indiz für eine fortwirkende erhebliche Mitursächlichkeit der Behinderung.
Die freiheitsentziehende Maßnahme könne nur deshalb angeordnet werden, weil eine länger andauernde Beeinträchtigung der geistigen oder seelischen Gesundheit vorliege, diese kausal für die Tat gewesen sei und darüber hinaus die Gefahr bestehe, dass der Täter infolge seines Zustands in Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werde. Der Freiheitsentzug erfolge nicht zur Ahndung eines vorwerfbaren Verhaltens, sondern aufgrund der krankheitsbedingten Gefährlichkeit des Kindes zum Schutze der Allgemeinheit. In einem solchen Fall stelle die Unterbringung im Maßregelvollzug keinen Fall der überholenden Kausalität dar, der die Behinderung als für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt unbeachtlich erscheinen ließe.
Hinweis: Andere Sichtweise bei Unterbringung neben einer Verurteilung
Etwas anderes kann gelten, wenn die Unterbringung nach § 63 StGB neben einer Verurteilung ausgesprochen wird. Denn eine Freiheitsstrafe dient der Ahndung einer (trotz der Behinderung) vorwerfbar begangenen Tat und hindert das behinderte Kind unabhängig von seinem Handicap (wie ein nicht behindertes Kind) an der Erwerbstätigkeit. Dies gilt auch im Falle einer im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit begangenen Tat. Die Verurteilung aufgrund der vorwerfbaren Tat stellt eine Zäsur dar. Zwar wird der Ursachenzusammenhang zwischen der Behinderung und der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt in diesem Fall nicht vollständig beseitigt. Dies schließt es aber nicht aus, die aufgrund des vorwerfbaren Verhaltens angeordnete freiheitsentziehende Maßnahme im Rahmen der Prüfung der Mitursächlichkeit als die rechtlich allein wesentliche Bedingung für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt zu werten.
BFH, Urteil v. 30.1.2024, III R 42/22; veröffentlicht am 2.5.2024
Alle am 2.5.2024 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen