Beim BFH sind inzwischen wieder zwei Verfahren offen, welche sich mit der ermäßigten Besteuerung von Kapitalauszahlungen aus einer betrieblichen Altersversorgung beschäftigen.
Der BFH hatte mit Urteil v 20.9.2016, X R 23/15, entschieden, dass die einmalige Kapitalabfindung laufender Ansprüche gegen eine der betrieblichen Altersversorgung dienende Pensionskasse jedenfalls dann dem regulären Einkommensteuertarif unterliegt, wenn das Kapitalwahlrecht schon in der ursprünglichen Versorgungsregelung enthalten war.
Der BFH bestätigte damit in seiner Entscheidung die Auffassung der Finanzverwaltung. Danach handelt es sich im Fall einer einmaligen Kapitalauszahlung aus einer Direktversicherung, einer Pensionskasse und einem Pensionsfonds nicht um außerordentliche Einkünfte i. S. d. § 34 Abs. 2 EStG und die Steuerermäßigung nach § 34 EStG kommt nicht zur Anwendung (Versorgungsleistungen aufgrund einer Direktzusage und Unterstützungskasse sind dagegen begünstigt).
Änderung der Rechtsprechung
Diese Rechtsprechung hat der BFH in späteren Entscheidungen (u. a. Urteil v. 11.6.2019, X R 7/18 und v. 6.5.2020, X R 24/19) dahingehend geändert, dass die vertragliche Vereinbarung lediglich ein Indiz im Rahmen der Beurteilung der Atypik darstellt, dem aber keine entscheidende Bedeutung zukommt.
Maßgeblich sei vielmehr, ob das Kapitalwahlrecht nur in atypischen Einzelfällen tatsächlich ausgeübt wird. Hierfür müsse statistisches Material ausgewertet werden, worüber Organisationen wie die zentrale Stelle (§ 81 EStG), Verbraucherschutzorganisationen sowie Verbände der Anbieter verfügen dürften. Für die vorzunehmende wertende Beurteilung soll auf sämtliche Versicherungsverträge abzustellen sein, die zu gemäß § 22 Nr. 5 Satz 1 EStG zu versteuernden Leistungen aus Pensionsfonds, Pensionskassen und Direktversicherungen führen und die seit Inkrafttreten des Alterseinkünftegesetzes am 1.1.2005 bis gegenwärtig durch eine einmalige Kapitalabfindung bei Rentenbeginn oder vorzeitig durch Kündigung bzw. die sonstige Vertragsauflösung mit der Folge einer Auszahlung des Rückkaufswertes beendet worden sind.
Kein statistisches Material vorhanden
Die FG Köln und Brandenburg haben daraufhin versucht, statistisches Material vom u. a. Statistischen Bundesamt, der Verbraucherzentrale Bundesverband, dem GKV-Spitzenverband, dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dem Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V., dem Statistischen Landesamt NRW, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, der Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung e.V. und dem Bundesministerium für Gesundheit zu erhalten. Diese Anfragen waren erfolglos, da wohl keine entsprechenden Statistiken geführt wurden.
FG Münster hat Bedenken
Das FG Münster hat aufgrund dieser Gründe Bedenken (Urteil vom 24.10.2023 – 1 K 1990/22 E), ob die vom BFH aufgestellten Kriterien zur Beurteilung des Merkmals der Atypik im Hinblick auf Kapitalauszahlungen aus Direktversicherungen im Sinne von § 22 Nr. 5 Satz 1 EStG nach den Ergebnissen der im Wesentlichen vom FG Köln vorgenommenen Befragungen noch Bestand haben können. Dies folge zum einen daraus, dass vor der Entscheidung zur Ausübung des Kapitalwahlrechts für den Steuerpflichtigen nicht hinreichend klar und bestimmbar ist, wie der Zufluss steuerlich behandelt werden wird. Zum anderen habe der BFH für den Fall, dass statistisches Material vorgelegt werden kann, nicht entschieden, wie dieses auszuwerten ist, insbesondere, ab welchem Prozentsatz eine Atypik bejaht werden kann.
Im Urteilsfall konnte dies aber dahinstehen, da – verbleibe es bei der neueren BFH-Rechtsprechung – keine Atypik vorliege, da der Steuerpflichtige für das Vorliegen einer Außerordentlichkeit die Feststellungslast trägt. Würde man hingegen die frühere Rechtsprechung anwenden, wonach es ausschließlich auf die ursprüngliche vertragliche Vereinbarung ankommt, liege ebenfalls keine Atypik vor, weil im Streitfall ein Kapitalwahlrecht von vornherein vereinbart wurde.
Revisionsverfahren beim BFH anhängig
Trotzdem hat das FG Münster die Revision zugelassen, um dem BFH die Gelegenheit zu geben, über die Ausschärfung der Kriterien zur Bestimmung der Atypik bei Kapitalauszahlungen von Renten erneut zu entscheiden, da er bei seinen bisherigen Entscheidungen (irrtümlich) davon ausgegangen sei, dass statistisches Material über die Häufigkeit der Ausübung von Kapitalwahlrechten verfügbar ist. Bezüglich der vorherigen Rechtsprechung hat die Klägerin die Auffassung vertreten, wonach es auf vertragliche Vereinbarungen im Hinblick auf die Anwendung von § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG nicht ankomme, da diese jederzeit geändert werden könnten. Die Revision wurde auch eingelegt, sodass die Entscheidung des BFH (Az beim BFH X R 25/23) abgewartet werden muss.
Aktualisierung: Revision gegen Urteil des FG Thüringen bei Kapitalauszahlung aus Pensionskasse
Der Auffassung des FG Münster hat sich auch das FG Thüringen angeschlossen (Urteil vom 13.12.2023, 4 K 294/20). Hier vereinbarte die Klägerin mit ihrem damaligen Arbeitgeber, dass ein Teil ihres Gehaltes in Form von Beiträgen an eine Pensionskasse umgewandelt wird. Der Vertrag sah eine Wahl zwischen einer laufenden monatlichen Rente und einer Einmalzahlung vor. Die Klägerin entschied sich für die Auszahlung eines einmaligen Kapitalbetrages.
Das Finanzamt stimmt einer ermäßigten Besteuerung wegen fehlender „Außerordentlichkeit“ nicht zu. Das FG schloss sich auch den Bedenken des FG Münster an. Es konnte aber auch dahin stehen, ob dem BFH in Bezug auf die Auswertung statistischen Materials zu folgen ist. Verbleibe es bei dieser Rechtsprechung, liege keine Atypik vor, da die Klägerin für das Vorliegen einer Außerordentlichkeit die Feststellungslast trage. Wende man hingegen die frühere Rechtsprechung an, wonach es ausschließlich auf die ursprüngliche vertragliche Vereinbarung ankommt, liege ebenfalls keine Atypik vor, weil auch im Streitfall des FG Thüringen ein Kapitalwahlrecht von vornherein vereinbart wurde. Es sei kein atypischer Geschehensablauf ersichtlich.
Das FG folgte insoweit nicht der Auffassung der Klägerin, wonach es auf vertragliche Vereinbarungen im Hinblick auf die Anwendung von § 34 Abs. 2 Nr. 4 EStG nicht ankomme, da diese jederzeit geändert werden könnten.
Da sich das FG Thüringen der (aus Sicht des FG) überzeugenden Auffassung des FG Münster angeschlossen hat, wurde folgerichtig auch die Revision zugelassen. Hier ist nun folgende Rechtsfrage offen (Az beim BFH X R 28/23): Ist auf die einmalige Kapitalleistung aus einer Pensionskasse, die nachgelagert zu besteuern ist und deren Kapitalisierung vertraglich vorgesehen war, die Fünftelregelung nach § 34 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 4 EStG anzuwenden?