Vor dem FG Baden-Württemberg wurde folgender Sachverhalt verhandelt: Die Klägerin ist eine Schweizer Aktiengesellschaft. Sie hatte bis einschließlich 2011 Geschäftsbeziehungen zu einem in Deutschland ansässigen Handelsunternehmen (C). C erbrachte diverse Dienstleistungen (Werbeleistungen, Vermittlung von Lieferantenverträgen, Pflege von Lieferantenkontakten) an die AG.
Zu Unrecht abgeführte Umsatzsteuer
Die AG rechnete in den streitbefangenen Jahren 2010 und 2011 über diese Dienstleistungen im Gutschriftverfahren unter Ausweis deutscher Umsatzsteuer ab, obwohl sich der Leistungsort am Sitz der Klägerin in der Schweiz befand. Die Klägerin bezahlte die Rechnungsbeträge inklusive der unzutreffend ausgewiesenen Steuerbeträge vollständig an C und machte sie beim Finanzamt als Vorsteuer geltend. C führte die Umsatzsteuer an das deutsche Finanzamt ab.
Zwischenzeitlich ist C insolvent und das Insolvenzverfahren dauert noch immer an. Die Insolvenzverwalter von C haben einen Antrag auf Erstattung der zu Unrecht abgeführten Umsatzsteuer beim Finanzamt in Deutschland gestellt. Dieses Verfahren ruhte bislang im Hinblick auf den Ausgang eines Vorabentscheidungsersuchens, das der BFH an den EuGH gerichtet hat. Die Klägerin hat zwischenzeitlich ihre Umsatzsteuererklärungen der Streitjahre berichtigt.
Sie stellte im Jahr 2016 beim Finanzamt den Antrag, den Vorsteuerabzug aus den gegenüber C erteilten Gutschriften im Billigkeitswege zu gewähren. Dieser Antrag wurde vom Finanzamt mit Einspruchsentscheidung vom Mai 2021 als unbegründet zurückgewiesen. Hiergegen richtete sich die erhobene Klage.
Neutralität der Umsatzsteuer
Das Finanzgericht hält die Klage für begründet. Danach ist die Neutralität der Umsatzsteuer in Frage gestellt, wenn ein Unternehmer als Leistungsempfänger zwar Zahlungen an den Leistenden geleistet hat, die einen Umsatzsteueranteil enthielten, der von diesem auch an die Finanzverwaltung abgeführt wurde, er aber gleichwohl keinen Vorsteuerabzug hat, weil ein solcher nur bei tatsächlich geschuldeter Umsatzsteuer, nicht hingegen bei in Gutschriften zu Unrecht ausgewiesener Umsatzsteuer möglich ist.
Im Fall der Insolvenz des Leistenden ist dem Leistungsempfänger sofort und in volle Höher ein Direktanspruch gegenüber der Finanzverwaltung auf Erstattung der gezahlten Umsatzsteuer zuzubilligen. Andererseits ist ein Erstattungsanspruch des Leistenden gegen das Finanzamt auch im Falle einer Insolvenz nur gegeben, wenn er zuvor die zu Unrecht ausgewiesene Umsatzsteuer an den Leistungsempfänger zurückbezahlt hat.
Nach Ansicht des Finanzgerichts besteht bei richtiger Sachbehandlung nicht die Gefahr, dass die Finanzverwaltung die zu Unrecht in Rechnung gestellte Umsatzsteuer zweimal erstatten muss. Denn der Erstattungsanspruch des insolventen Leistenden steht unter der aufschiebenden Bedingung, dass er seinerseits die zu Unrecht in Rechnung gestellte Umsatzsteuer dem Leistungsempfänger erstattet. Dies ist ihm aufgrund der insolvenzrechtlichen Bestimmungen allerdings unmöglich.
Risiko der Überkompensation
Dabei hat das Finanzgericht auch nicht übersehen, dass bei dem aufgezeigten Lösungsweg die theoretische Möglichkeit besteht, dass der Leistungsempfänger zu Unrecht bereichert wird. Denn, wenn er einen Direktanspruch auf Erstattung gegen die Finanzverwaltung in voller Höhe hat und zugleich seinen Erstattungsanspruch gegen den Leistenden geltend macht und zumindest teilweise Befriedigung in Höhe der Insolvenzquote erlangt, trete eine Überkompensation ein, die den übrigen Insolvenzgläubigern zum Nachteil gereichen würde.
Dies zu verhindern ist allerdings nicht Sache der Finanzgerichtsbarkeit. Es drängt sich aber auf, dass der zivilrechtliche Erstattungsanspruch gegen den Leistenden erledigt oder jedenfalls nicht mehr geltend gemacht werden kann, wenn die Finanzverwaltung den Direktanspruch erfüllt hat bzw. eventuell bereits schon dann, wenn dieser entstanden ist.
EuGH-Rechtsprechung zum Reemtsma-Anspruch
Der sog.e Reemtsma-Anspruch beruht auf dem EuGH-Urteil v. 15.3.2007, C-35/05 (Reemtsma Zigarettenfabriken). Nach Ansicht des BFH ist dieser im Rahmen eines Billigkeitsverfahrens (§ 163 AO, 227 AO) zu gewähren. Die Finanzverwaltung hat hierzu mit BMF, Schreiben v. 12.4.2022, III C 2 – S 7358/20/10001 :004, BStBl 2022 I S. 652, ein „restriktives“ BMF-Schreiben erlassen, wonach über einen geltend gemachten Direktanspruch so lange nicht entschieden werden kann, wie eine Inanspruchnahme des Fiskus durch den Leistenden aufgrund einer Berichtigung des Steuerbetrags nach § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG und § 14c Abs. 1 Satz 3 UStG rechtlich möglich ist. Daher kann z. B. im Insolvenzverfahren nach Ansicht der Finanzverwaltung regelmäßig erst nach Abschluss dieses Verfahrens über den Direktanspruch entschieden werden. Das Finanzgericht hat dem klar widersprochen, zumal der Insolvenzverwalter im Streitfall bereits zu erkennen gegeben hatte, dass die Klägerin mit ihren Forderungen gegen den Leistenden ausfallen würde.
Mit EuGH, Urteil v. 5.9.2024, C-83/23 (H GmbH), hat der EuGH über die oben genannte Vorlage des BFH entschieden – und zwar zu Lasten der Klägerin, der Reemtsma-Anspruch wurde abgelehnt. In diesem Streitfall, in dem es um den Verkauf von Motorbooten unter Ausweis deutscher Umsatzsteuer ging, die allerdings faktisch in Italien geliefert worden waren, hatte das Finanzamt den zunächst erhaltenen Steuerbetrag wieder an den Lieferanten ausgezahlt. In einem solchen Fall greift der Reemtsma-Anspruch nicht, da die Finanzverwaltung die Steuer ansonsten zweimal auszahlen müsste. Der EuGH hat dabei betont, dass die Möglichkeit der Erstattung der Umsatzsteuer nach den Grundsätzen der Reemtsma-Entscheidung eine Ausnahme darstellt. Diese Möglichkeit sei nur dann eröffnet, wenn die Beitreibung der Mehrwertsteuer beim Lieferer oder Dienstleistungserbringer unmöglich oder übermäßig erschwert ist. Dies setze aber voraus, dass der Erwerber oder Dienstleistungsempfänger alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um seine Rechte anderweitig geltend zu machen. Im Streitfall hätte die Antragstellerin gegen den Insolvenzverwalter des Dienstleistungserbringers eine zivilrechtliche Klage auf Erteilung einer Rechnung mit italienischem Mehrwertsteuerausweis erheben können, was sie nicht getan hat. Der Umstand, dass sich der Dienstleistungserbringer in einem Insolvenzverfahren befindet, sei dabei nicht relevant.
Da die Problematik äußerst vielschichtig ist, kann sie hier nur kurz angerissen werden. Fakt ist aber, dass sich die Praxis von der aktuellen EuGH-Entscheidung mehr erhofft hätte. Insofern gilt es die weiteren anhängigen Verfahren abzuwarten, insbesondere die Umsetzung der aktuellen EuGH-Entscheidung durch den BFH.
Revision beim BFH
Gegen das hier besprochene Urteil des FG Baden-Württemberg wurde zwischenzeitlich seitens der Finanzverwaltung Revision eingelegt, Az beim BFH XI R 11/24. Auch aus diesem Revisionsverfahren dürften sich (hoffentlich) weitere Erkenntnisse für die Praxis zur Handhabung des Reemtsma-Anspruchs in Insolvenzfällen gewinnen lassen.