Gemäß §§ 18 Abs. 3, 16 Abs. 4 EStG wird, wenn der Steuerpflichtige das 55. Lebensjahr vollendet hat oder er im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig ist, ein von diesem erzielter Veräußerungsgewinn im Sinne von § 16 Abs. 1 EStG auf Antrag zur Einkommensteuer nur herangezogen, soweit dieser 45.000 EUR übersteigt. Der Freibetrag ist dem Steuerpflichtigen nur einmal zu gewähren. Wird ein Veräußerungsgewinn auch unterhalb des Freibetrags freigestellt, gilt der Freibetrag vollständig als verbraucht.
FG Köln beschäftigt sich mit erneuter Berücksichtigung eines Veräußerungsfreibetrags
Das FG Köln hat sich mit einem Fall beschäftigt, in dem der Steuerpflichtige die erneute Berücksichtigung eines Veräußerungsfreibetrags beantragt hat.
Der Kläger beantragte im Rahmen der Einkommensteuererklärung 2019 für einen Aufgabegewinn den Freibetrag nach §§ 18 Abs. 3, 16 Abs. 4 EStG. Der Beklagte gelangte zu der Auffassung, dass der Freibetrag für 2019 aufgrund der Gewinnfreistellung bereits im Jahr 2011 nicht mehr gewährt werden könne.
Im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung stellte sich die Berücksichtigung des Freibetrages in 2011 wie folgt dar: Im Rahmen eines Änderungsbescheides – aufgrund sog. ESt4B-Mitteilungen – setzte der Beklagte (erstmals) einen Gewinn aus der Veräußerung einer Beteiligung an der A GmbH & Co. KG an, stellte diesen jedoch aufgrund des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG steuerfrei. Der Bescheid enthielt hierzu folgenden Erläuterungstext:
„Die Änderung ergibt sich aufgrund der Auswertung einiger Mitteilungen bezgl. Ihrer Beteiligungseinkünfte. Die Zusammensetzung der Beteiligungseinkünfte entnehmen Sie bitte der Anlage, die Ihnen bereits mit gesonderter Post zugegangen ist.“
Auf die tatsächliche Berücksichtigung des Freibetrags wurde weder im Erläuterungstext des Steuerbescheids noch in der im Steuerbescheid in Bezug genommenen Anlage hingewiesen. Die Berücksichtigung des Freibetrags war auch vom Kläger nicht beantragt worden.
Finanzamt: Steuerpflichtige hätte Einspruch einlegen müssen
Das Finanzamt vertrat die Auffassung, dass zwar der Freibetrag vom Kläger damals nicht beantragt worden sei, gleichwohl habe sich die Gewährung des Freibetrags steuerlich ausgewirkt. Der Kläger sei deshalb angehalten gewesen, gegen diesen – insoweit unzutreffenden – Steuerbescheid Einspruch einzulegen. Dies habe er unterlassen.
Da die damalige Berücksichtigung des Freibetrags für den durchgehend steuerlich beratenen Kläger auch erkennbar gewesen sei, komme eine erneute Berücksichtigung des bereits vollständig verbrauchten Freibetrags im Streitjahr auch nach Maßgabe von Treu und Glauben nicht in Betracht.
Steuerpflichtiger: Anwendung des Freibetrags nicht erkennbar
Der Steuerpflichtige argumentierte dagegen, dass er sich den Verbrauch des mangels vorheriger Antragstellung rechtswidrig gewährten Freibetrags nicht entgegenhalten lassen müsse, da für ihn nicht erkennbar gewesen sei, dass sich der Freibetrag ausgewirkt habe. So fehle im betroffenen Bescheid ein Hinweis auf die Verbrauchswirkung. Der im Wesentlichen freiberuflich tätige Kläger habe keinen Zusammenhang mit dem für gewerbliche Einkünfte gewährten Freibetrag herstellen müssen, zumal die steuerliche Auswirkung im Jahr 2011 nur etwa 1,25 % der Gesamtsteuer ausmache.
BFH-Rechtsprechung
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des BFH (z. B. Urteil v. 21.7.2009, X R 2/09), die vollständige Verbrauchswirkung auch dann eintritt, wenn der Freibetrag, der dem Wortlaut des § 16 Abs. 4 EStG nach ausdrücklich einen Antrag des Steuerpflichtigen voraussetzt, vom Finanzamt ohne vorherige Antragstellung berücksichtigt wurde und der Steuerpflichtige gegen die unzutreffende Festsetzung nicht vorgegangen, diese also bestandskräftig geworden ist.
Das dem Rechtsfrieden dienende Prinzip der Bestandskraft rechtfertige es gerade auch, dass sogar rechtswidrige Verwaltungsakte endgültige Wirkungen entfalten, sofern ein Adressat diese Wirkungen dadurch akzeptiert, dass er keine Maßnahmen dagegen ergreift.
FG Köln gewährt Freibetrag für 2019
Die Auffassung des Finanzamts teilt das FG Köln aber im Urteilsfall nicht (Urteil v. 20.3.2024, 9 K 926/22, rechtskräftig). Der Beklagte habe dem Kläger zu Unrecht den im Jahr 2011 eingetretenen Verbrauch des Freibetrags gemäß § 16 Abs. 4 EStG entgegengehalten, da dieser den mangels vorherigen Antrags rechtswidrigen Verbrauch des Freibetrags nicht erkannt hat und auch nicht erkennen musste.
Nach den Grundsätzen von Treu und Glauben müsse sich der Steuerpflichtige ein Unterlassen rechtswahrender Maßnahmen wie die Einlegung von Rechtsbehelfen jedenfalls dann nicht entgegenhalten lassen, wenn der Verwaltungsakt deshalb keinen Anlass dazu gibt, weil belastende Wirkungen weder durch den Bescheid selbst oder durch die Korrespondenz im Verwaltungsverfahren, zu dem auch das Einspruchsverfahren gehört, erkennbar waren. Dies gelte insbesondere dann, wenn – wie bei der Gewährung des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG – neben einer steuermindernden und damit begünstigenden Wirkung auch eine Verbrauchswirkung und damit belastende Folge verbunden ist, und umso mehr, wenn die (steuer-)begünstigende Wirkung deutlich hinter der (im Verbrauch zu sehenden) belastenden Wirkung zurückbleiben kann.
Deshalb liege im Fall des § 16 Abs. 4 EStG die erforderliche Erkennbarkeit nicht schon dann vor, wenn sich aus dem Festsetzungsteil eine nur geringfügige Änderung des festzusetzenden oder zu erstattenden Steuerbetrags oder aus dem Berechnungsteil des Einkommensteuerbescheids der Ansatz oder Nichtansatz eines Werts ergibt, selbst wenn dieser als „steuerfreier Veräußerungsgewinn“ bezeichnet wird. Der Hinweis darauf, dass das Finanzamt – auch vermeintlich im Sinne des Steuerpflichtigen – einen Freibetrag berücksichtigt hat, mit dem eine Verbrauchswirkung für spätere Veräußerungsgewinne verbunden ist, habe im dafür vorgesehenen Erläuterungsbereich des Steuerbescheids oder ausdrücklich im Verwaltungsverfahren zu erfolgen.
Daher kam das FG zu dem Ergebnis, dass der Kläger aufgrund des im Verhältnis zum zu versteuernden Einkommen geringen Veräußerungsgewinns, nicht schon an der Änderung der festgesetzten Einkommensteuer erkennen musste, dass der Freibetrag berücksichtigt wurde und noch weniger, dass damit eine Verbrauchswirkung verbunden war. Da auch der Erläuterungstext des Bescheids weder einen Hinweis auf die Verwendung des Freibetrags noch auf die damit verbundene Verbrauchswirkung enthielt, war der Kläger nicht gehalten, den Berechnungsteil des Bescheids daraufhin zu überprüfen, ob der Beklagte entgegen dem Gesetzeswortlaut ohne Antrag des Klägers den Freibetrag mit der Folge des Verbrauchs des weit überwiegenden Teils des Freibetrags für etwaige künftige Veräußerungsgewinne gewährt hatte.