Ein nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO für vorläufig erklärter Steuerbescheid kann nicht gemäß § 165 Abs. 2 AO zu Lasten des Steuerpflichtigen geändert werden.

Hintergrund: Gesetzliche Regelung

Soweit die Finanzbehörde eine Steuer vorläufig festgesetzt hat, kann sie die Festsetzung nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO aufheben oder ändern. Wenn die Ungewissheit beseitigt ist, ist eine vorläufige Steuerfestsetzung aufzuheben, zu ändern oder für endgültig zu erklären (§ 165 Abs. 2 Satz 2 AO). In den Fällen des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO muss eine vorläufige Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO nur auf Antrag des Steuerpflichtigen für endgültig erklärt werden, wenn sie nicht aufzuheben oder zu ändern ist (§ 165 Abs. 2 Satz 4 AO).

Rechtsfrage

Entgegen der Gesetzeslage wurden Aufwendungen für eine Berufsausbildung in den betreffenden Einkommensteuer-Bescheiden 2015 und 2016 berücksichtigt und mit einem entsprechenden Vorläufigkeitsvermerk versehen. Aufgrund des Beschlusses des BVerfG v. 19.11.2019, 2 BvL 22-27/14, BVerfGE 152 S. 274, sah sich das Finanzamt veranlasst, die zu Unrecht als Werbungskosten berücksichtigten Aufwendungen für die Berufsausbildung zu streichen.

Fraglich war, ob das Finanzamt berechtigt war, aufgrund der angeordneten Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO die Einkommensteuer-Bescheide so zu ändern, dass sie der ursprünglichen – vom BVerfG bestätigen – Rechtslage entsprechen?

Sachverhalt: Klägerin absolvierte „Zweitausbildung“

  • Die Klägerin studierte nach einer dreimonatigen Ausbildung zur Rettungssanitäterin in den Jahren 2011 bis 2016 Medizin. In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre (2015 und 2016) machte sie die Kosten hierfür als (vorab entstandene) Werbungskosten nach § 9 Abs. 6 des EStG in der in den Streitjahren geltenden Fassung geltend.
  • Das Finanzamt (FA) erkannte die Aufwendungen erklärungsgemäß, aber abweichend von der gesetzlichen Regelung in § 9 Abs. 6 EStG, als Werbungskosten für eine Zweitausbildung an.
  • Die Bescheide ergingen hinsichtlich der Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung unter einem Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO. Im Vorläufigkeitsvermerk wurde ausgeführt, die Vorläufigkeitserklärung erfasse die Frage, ob § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG mit höherrangigem Recht vereinbar sei.

Nachdem das BVerfG entschieden hatte, dass § 9 Abs. 6 EStG verfassungsgemäß sei, änderte das FA im Jahr 2021 die Einkommensteuerbescheide der Streitjahre nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i. V. m. Abs. 2 AO. Die Ausbildung der Klägerin zur Rettungssanitäterin habe nicht den vom Gesetz geforderten Mindestumfang von 12 Monaten aufgewiesen. Deshalb sei das Medizinstudium als Erstausbildung anzusehen, so dass die Aufwendungen hierfür nach § 9 Abs. 6 EStG nicht als Werbungskosten abzugsfähig seien. Es handele sich um – im Streitfall steuerlich unerhebliche – Sonderausgaben i. S. v. § 10 EStG. Die ursprünglichen Steuerfestsetzungen der Streitjahre seien daher zu Lasten der Klägerin zu ändern. Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gab das FG statt.

Entscheidung: Keine Änderung zu Lasten des Steuerpflichtigen möglich

Der BFH urteilt, dass das FG hat zu Recht entschieden hat, dass das FA nicht nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 und 2 AO befugt war, die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre, in denen vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften der Klägerin aus nichtselbständiger Arbeit berücksichtigt wurden, zu ändern.

Umfang des Korrekturbedarfs nach § 165 Abs. 2 AO

§ 165 Abs. 2 Satz 1 und 2 AO erlaubt keine Korrektur einer rechtswidrigen, nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufigen Steuerfestsetzung (weder zu Lasten noch zu Gunsten des Steuerpflichtigen). Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 165 Abs. 2 Satz 1 AO sind die Finanzbehörden lediglich „soweit“ zur Änderung befugt, als sie die Steuer vorläufig festgesetzt haben. Es handelt sich deshalb bei § 165 Abs. 2 AO nicht um eine allgemeine Korrekturvorschrift betreffend die Rechtmäßigkeit einer Steuerfestsetzung. Vielmehr erlaubt der Umstand, dass eine Steuer vorläufig festgesetzt wurde, Änderungen nur insoweit, als sie dem durch die Vorläufigkeitsvermerke gesteckten Änderungsrahmen entsprechen. Im Übrigen wird die Steuerfestsetzung bestandskräftig und kann nur nach den §§ 172 ff. AO geändert oder nach § 129 AO berichtigt werden.

Kein Korrekturbedarf bei Bestätigung der aktuellen Rechtslage

Ist die Festsetzung der Einkommensteuer – wie vorliegend – nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO wegen eines beim BVerfG anhängigen Verfahrens zur Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht – hier Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben nur nach vorheriger zwölfmonatiger Erstausbildung – für vorläufig erklärt worden, kann die Einkommensteuerfestsetzung nur im Hinblick auf eine die Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht bestätigende Entscheidung des BVerfG aufgehoben oder geändert werden. Hierauf hat das FA im Rahmen der Vorläufigkeitsfestsetzung auch zutreffend hingewiesen.

Bestätigt das BVerfG die Vereinbarkeit des Steuergesetzes – hier § 4 Abs. 9, § 9 Abs. 6 EStG – mit höherrangigem Recht (Verfassungsrecht), besteht hingegen kein Korrekturbedarf; eine Änderung der Steuerfestsetzung ist mithin ausgeschlossen. Sie ist vielmehr – auf Antrag des Steuerpflichtigen – für endgültig zu erklären (§ 165 Abs. 2 Satz 4 AO). Die Frage nach der zutreffenden Anwendung des Steuergesetzes, welches mit höherrangigem Recht vereinbar ist, also die Frage nach der materiellen Richtigkeit der bisherigen Steuerfestsetzung, stellt sich insoweit nicht.

§ 165 Abs. 1 Satz 2 AO dient Verhinderung von Massenrechtsbehelfen

Sinn und Zweck einer auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gestützten, vorläufigen Steuerfestsetzung streiten ebenfalls dafür, dass deren Änderung zu Lasten des Steuerpflichtigen auch bei vorliegender Rechtswidrigkeit nicht auf § 165 Abs. 2 AO gestützt werden kann. Denn der Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO dient der Vermeidung von Massenrechtsbehelfen und damit der Entlastung der Steuerpflichtigen, der Finanzbehörden und der Gerichte in Fällen von anhängigen Musterverfahren. Er ermöglicht dem FA damit eine vorläufige Steuerfestsetzung im Rahmen der geltenden Steuergesetze. Demgegenüber wird dem FA dadurch nicht die Möglichkeit eröffnet, die Steuer – im Hinblick auf eine mögliche Unvereinbarkeit des anzuwendenden Steuergesetzes mit höherrangigem Recht – abweichend von der geltenden Rechtslage vorläufig festzusetzen.

Ein Änderungsbedarf ergibt sich danach nicht, falls das BVerfG die Vereinbarkeit des von der Verwaltung vorläufig angewandten Steuergesetzes mit der Verfassung bestätigt. Nur falls das BVerfG das zu Lasten des Steuerpflichtigen wirkende Steuergesetz als nicht mit der Verfassung vereinbar erklärt, ist der vorläufige Bescheid zu seinen Gunsten zu ändern. Eine Änderung zu Lasten des Steuerpflichtigen sieht § 165 Abs. 2 Satz 1 und 2 Halbsatz 1 AO im Fall des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO folglich nicht vor.

Hinweis: Andere Korrekturvorschriften nicht einschlägig

Eine Berichtigung auf Grund § 129 AO bzw. eine Änderung nach den §§ 172 ff. AO kommt, was zwischen den Beteiligten zu Recht nicht in Streit steht, ebenfalls nicht in Betracht.



BFH, Urteil v. 29.4.2025, VI R 14/23
; veröffentlicht am 7.8.2025

Alle am 7.8.2025 veröffentlichten Entscheidungen des BFH mit Kurzkommentierungen