Der Wert von Anteilen an einer nicht börsennotierten Kapitalgesellschaft ist nicht auf den Substanzwert begrenzt, wenn eine Ableitung des (niedrigeren) gemeinen Werts aus Verkäufen unter fremden Dritten, die weniger als ein Jahr zurückliegen, möglich ist. Zur Ableitung des gemeinen Werts aus Verkäufen zwischen fremden Dritten können solche Verkäufe nicht herangezogen werden, bei denen über Jahre hinweg regelmäßig derselbe Preis zugrunde gelegt wird.

Hintergrund: Gesetzliche Regelung

  • Nach § 12 Abs. 2 ErbStG sind Anteile an Kapitalgesellschaften, für die ein Wert nach § 151 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BewG festzustellen ist, mit dem auf den Bewertungsstichtag (§ 11 ErbStG) festgestellten Wert anzusetzen.
  • Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 BewG sind Anteile an Kapitalgesellschaften, die nicht unter § 11 Abs. 1 BewG fallen, da sie am Stichtag nicht an einer deutschen Börse zum Handel im regulierten Markt zugelassen sind, mit dem gemeinen Wert anzusetzen.
  • Lässt sich der gemeine Wert nicht aus Verkäufen unter fremden Dritten ableiten, die weniger als ein Jahr zurückliegen, so erfolgt die Bewertung der Anteile nach § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG unter Berücksichtigung der Ertragsaussichten der Kapitalgesellschaft oder einer anderen anerkannten, auch im gewöhnlichen Geschäftsverkehr für nichtsteuerliche Zwecke üblichen Methode; dabei ist die Methode anzuwenden, die ein Erwerber der Bemessung des Kaufpreises zugrunde legen würde.
  • Nach § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG darf die Summe der gemeinen Werte der zum Betriebsvermögen gehörenden Wirtschaftsgüter und sonstigen aktiven Ansätze abzüglich der zum Betriebsvermögen gehörenden Schulden und sonstigen Abzüge (Substanzwert) der Gesellschaft nicht unterschritten werden

Rechtsfrage

Kann der gemeine Wert eines Anteils an einer Kapitalgesellschaft nach § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG auch aus der (freiwilligen) Einziehung von Geschäftsanteilen abgeleitet werden, sodass der Substanzwert als Untergrenze nicht zum Tragen kommt, oder steht dies dem Kriterium „unter fremden Dritten“ entgegen?

Sachverhalt: Übergang von GmbH-Anteilen durch Erbfall

  • Die Klägerin zu 1. ist eine GmbH und Familienholdinggesellschaft, die insbesondere Beteiligungen an anderen Gesellschaften hielt. Die Kläger zu 2. und 3. sind Erben ihrer im November 2014 verstorbenen Mutter (M). M gehörten ca. 9,95 % der Anteile an der Klägerin zu 1.
  • Bereits seit dem Jahr 2009 waren mehrfach Einziehungen von Teilgeschäftsanteilen an der Klägerin zu 1. jeweils zu einem Einziehungskurs von 400 % des jeweiligen Nennkapitals sowie ein Anteilsverkauf unter Gesellschaftern zu einem Veräußerungspreis von 400 % des Nennkapitals erfolgt. Im Februar 2015 erfolgten 2 Einziehungen von Teilgeschäftsanteilen an der Klägerin zu 1. zu einem Einziehungskurs von ebenfalls 400 %. Die jeweils verbliebenen Anteile wurden verhältnismäßig aufgestockt. Im Jahr 2018 wurde ein weiterer Anteil an der Klägerin zu 1. unter Gesellschaftern zu einem Kurs von 380 % des Nennkapitals verkauft.
  • Das Finanzamt (FA) stellte unter dem Vorbehalt der Nachprüfung mit Feststellungsbescheid vom 16.11.2015 den Wert der Anteile an der Klägerin zu 1. erklärungsgemäß mit dem Vierfachen des Nominalwerts fest. Aufgrund einer Konzernbetriebsprüfung bei der Klägerin zu 1. änderte das FA die Wertfeststellung unter Ansatz des Substanzwerts und stellte den Wert des Anteils an der Klägerin zu 1. fest.
  • Einspruch und Klage gegen den geänderten Feststellungsbescheid blieben erfolglos. Das FG führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass der Wert des Anteils zutreffend anhand des Substanzwerts der Gesellschaft nach § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG ermittelt worden sei. Es könne dahinstehen, ob die aufgrund in der Gesellschafterversammlung der Klägerin zu 1. Im Februar 2015 beschlossenen Einziehungen zu einem Einziehungskurs von 400 % des Nennkapitals als Verkäufe unter fremden Dritten i. S. d. § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG angesehen werden könnten. Jedenfalls sei nach § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG der Substanzwert stets als Mindestwert anzusetzen.

Entscheidung: BFH weist Revision als unbegründet zurück

Der BFH entscheidet, dass das FG hat im Ergebnis zutreffend die Klage abgewiesen hat. Zwar ist das FG rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass der Substanzwert nach § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG als Untergrenze auch auf einen nach § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG abgeleiteten Wert aus zeitnahen Verkäufen unter fremden Dritten Anwendung findet. Das Urteil des FG stellt sich indes aus anderen Gründen als richtig dar. Eine Ableitung des gemeinen Werts der Anteile an der Klägerin zu 1. nach § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG aus zeitnahen Verkäufen unter Heranziehung eines Einziehungskurses von 400 % des Nennwerts kommt nicht in Betracht. Die im Feststellungsbescheid vorgenommene Bewertung der Anteile an der Klägerin zu 1. nach § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG mit dem Substanzwert ist danach rechtmäßig und verletzt die Kläger zu 2. und 3. nicht in ihren Rechten.

FG hätte rechtliche Würdigung der Einziehungen nicht dahinstehen lassen dürfen

  • Das FG hätte nicht dahinstehen lassen dürfen, ob die in der Gesellschafterversammlung der Klägerin zu 1. im Februar 2015 beschlossenen Einziehungen zu einem Einziehungskurs von 400 % des Nennkapitals als Verkäufe unter fremden Dritten i. S. d. § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG angesehen werden könnten. Denn anders als das FG meint, findet der Substanzwert nach § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG als Untergrenze auf einen nach § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG aus zeitnahen Verkäufen unter fremden Dritten abgeleiteten Wert keine Anwendung. Dies folgt aus dem Zweck der Norm, den gemeinen Wert der Anteile an einer Kapitalgesellschaft zu ermitteln (teleologische Auslegung) und aus der inneren Systematik (systematische Auslegung).
  • § 11 Abs. 2 Satz 1 BewG enthält das Bewertungsziel des Gesetzgebers und entspricht § 9 Abs. 1 BewG sowie den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 3 Abs. 1 GG, nach denen die einzelnen Vermögensgegenstände wegen der zugrunde liegenden Belastungsentscheidung des Gesetzgebers bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer mit einem Annäherungswert an den gemeinen Wert zu bewerten sind. Ist die Ableitung des gemeinen Werts aus zeitnahen Verkäufen zwischen fremden Dritten möglich und damit das verfassungsrechtlich gebotene Bewertungsziel nach § 11 Abs. 2 Satz 1 BewG erreicht, ist kein Grund ersichtlich den durch Ableitung aus zeitnahen Verkäufen gefundenen gemeinen Wert durch einen anderen, namentlich höheren Substanzwert nach § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG zu ersetzen.
  • Die vom FG vorgenommene Auslegung der Norm widerspricht auch dem verfassungsrechtlichen Gebot, alle Vermögensgegenstände in einem Annäherungswert an den gemeinen Wert zu bewerten. Sie ist nicht zulässig, wenn eine nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung möglich ist (verfassungskonforme Auslegung). Das Gebot verfassungskonformer Gesetzesauslegung verlangt, von mehreren möglichen Normdeutungen, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führen, diejenige vorzuziehen, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht.

Entscheidung des FG dennoch richtig

Obwohl das FG von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist, stellt sich dessen Entscheidung aus anderen Gründen als richtig dar.

  • Ein Ansatz der Anteile an der Klägerin zu 1. mit einem Einziehungskurs i. H. v. 400 % des Nennkapitals als Ableitung des gemeinen Werts aus zeitnahen Verkäufen unter fremden Dritten nach § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG kommt nicht in Betracht, so dass nach § 11 Abs. 2 Satz 3 BewG der Substanzwert als Mindestwert anzusetzen ist.
  • Maßgebend für die Ableitung des gemeinen Werts von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft nach § 11 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 BewG ist der Preis, der bei einer Veräußerung im gewöhnlichen Geschäftsverkehr tatsächlich erzielt wurde. Gewöhnlicher Geschäftsverkehr ist der Handel, der sich nach den marktwirtschaftlichen Grundsätzen von Angebot und Nachfrage vollzieht und bei dem jeder Vertragspartner ohne Zwang und nicht aus Not, sondern freiwillig in Wahrung seiner eigenen Interessen zu handeln in der Lage ist.
  • Ob die Parteien einen Preis vereinbart haben, der demjenigen im gewöhnlichen Geschäftsverkehr entspricht, ist nach ständiger Rechtsprechung nach den Gesamtumständen des Einzelfalles unter Heranziehung objektiver Wertmaßstäbe zu entscheiden, zu denen vor allem das Gesamtvermögen und die Ertragsaussichten gehören. Bei der Ableitung des gemeinen Werts sind alle Umstände, die den Preis beeinflussen, zu berücksichtigen. Auszuklammern sind dabei solche preisbildenden Faktoren, die mit der Beschaffenheit der Anteile selbst nichts zu tun haben. Ungewöhnliche oder persönliche Verhältnisse sind außer Acht zu lassen.
  • Wie der Senat bereits für § 11 Abs. 2 Satz 2 BewG a. F. entschieden hat, können zur Ableitung des gemeinen Werts aus Verkäufen zwischen fremden Dritten solche Verkäufe nicht herangezogen werden, bei denen regelmäßig derselbe Preis (insbesondere der Nominalwert) zugrunde gelegt wird. Ein solcher Ansatz zeigt, dass die Beteiligten den Preis gerade nicht unter den Bedingungen des gewöhnlichen Geschäftsverkehrs nach den marktwirtschaftlichen Grundsätzen von Angebot und Nachfrage unter Heranziehung objektiver Wertmaßstäbe, zu denen vor allem das Gesamtvermögen und die Ertragsaussichten gehören, gebildet haben. Dies gilt auch, wenn ein Preis regelmäßig gleichbleibend angesetzt wird, der sich als ein Vielfaches des Nominalwerts darstellt.

Keine Ableitung des gemeinen Werts aus Einziehungskurs

Nach diesen Grundsätzen kommt eine Ableitung des gemeinen Werts der Anteile an der Klägerin zu 1. aus dem Einziehungskurs i. H. v. 400 % des Nennkapitals nicht in Betracht. Die Kläger haben selbst vortragen, dass der Einziehungskurs nicht für jeden Einzelfall einzeln ausgehandelt, sondern über Jahre hinweg aufgrund der unveränderten Ausschüttungspraxis der Klägerin zu 1. gleichbleibend angesetzt wurde, ohne die veränderten Vermögensverhältnisse der Gesellschaft und ihrer Beteiligungsgesellschaften zu berücksichtigen.

Dass sich der Kaufpreis nicht an den veränderten Vermögensverhältnissen orientiert hat, folgt auch aus dem aus objektiven Gründen nicht erklärbaren erheblichen Missverhältnis zu dem das Gesamtvermögen der Gesellschaft abbildenden Substanzwert. Der Substanzwert der Klägerin zu 1. liegt mehr als das 6-fache über dem sich aus dem Einziehungskurs ergebenden Wert.

Hinweis: Einziehungen im Februar 2025 nicht von Belang

Da eine Ableitung des gemeinen Werts aus dem Einziehungskurs von 400 % des Nennkapitals der Klägerin zu 1. nicht in Betracht kommt, konnte der BFH dahingestellt bleiben lassen, ob die Einigung zu den Einziehungen im Februar 2015 rechtzeitig und zwischen fremden Dritten erfolgte.



BFH, Urteil v. 25.9.2024, II R 15/21
; veröffentlicht am 6.2.2025

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